Ruhestörung

Jahrhundertelang zermahlten Apotheker sowohl die gehärtete Balsamierungsmasse als auch die trockenen Leichenstücke. Das Mumienpulver schluckte man entweder wie Arznei oder wendete es äußerlich an.

Beim Öffnen des Metallbehälters breitete sich ein harzig-aromatischer Duft aus. Max entnahm das Stoffbündel und faltete es auseinander. Eine Keramikdose mit der Aufschrift „Mumia vera“ kam zum Vorschein. Er hatte diesen Schatz vor kurzem entdeckt. Heute würde sich endlich Verwendung dafür finden.

Mumienpulver, so hatte er im Internet gelesen, verkauften Apotheken einst als Arzneimittel. Der vollständige Name lautete „Mumia vera aegyptiaca“. Um es herzustellen, importierte man echte Mumien aus Ägypten, getrocknete Leichen, die Balsamierer mit Weihrauch, Myrrhe, Bienenwachs, Bitumen und Ölen präpariert hatten. Zur Zeit der Pharaonen glaubten die Menschen an ein Leben nach dem Tod. Ihr lebloser Körper diente dem Übergang ins Jenseits, wo der Totengott Osiris regierte. Welch ein Mumpitz.

Jahrhundertelang zermahlten Apotheker sowohl die gehärtete Balsamierungsmasse als auch die trockenen Leichenstücke. Das Mumienpulver schluckte man entweder wie Arznei oder wendete es äußerlich an. Der große Erfolg dieses Mittelchens beruhte auf der Annahme, dass der gute Zustand der Mumien geheimnisvollen Kräften entsprang, die sich darin manifestierten.

Umwickelt von einem alten Tuch und in eine Blechbüchse gestopft, überdauerte die Pulverdose in dem Kellerraum Generationen. Max knüllte den Stoff zusammen und drückte ihn wieder und wieder an die Nase. Mit geschlossenen Augen atmete er den Geruch ein. Ähnlich rochen die Räucherkerzen zu Weihnachten. Max gluckste innerlich beim Gedanken an den Prank für seine Clique heute Abend.

Der farbige Schriftzug auf dem Steinguttöpfchen, eine Mischung aus Fraktur- und Schreibschrift, zeigte winzige Risse. Auf der Rückseite haftete ein vergilbtes Apothekenetikett. Beherzt drehte Max an dem Deckel. Der gleiche Duft wie im Tuch, nur intensiver, strömte aus der Dose. Er entdeckte im Inneren nicht nur Pulver, sondern auch bernsteinfarbene Bröckchen, die teilweise aneinanderklebten.

Max schüttelte das Gefäß, um die Krümel voneinander zu lösen. Langsam füllte er den Inhalt in ein leeres Einmachglas. Echte Leichenteile! Davon angezogen und zugleich abgestoßen, rührte er mit dem Finger darin herum. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf.

Ein Trupp Jugendlicher stürmte über den gepflasterten Weg am Haus vorbei in den Garten. Geplapper und Lachen zerrissen die Stille des Sommerabends.
„Hast du Wodka mitgebracht?“ Max peilte seinen Kumpel Nico inmitten der Angekommenen an.
Der nickte und zerrte eine Flasche aus seinem Rucksack. „Alles da!“
Die Partymeute bewegte sich zielsicher zur Terrasse, auf der Max Sitzbänke und Tische aufgestellt hatte. Maja und Amelie lümmelten sich in die Ecke mit Sitzsäcken.
„Geile Partylocation!“, schwärmte Nico. „Deine Eltern sind heute weg?“
Max bejahte.
Nico hob den Daumen und begutachtete das Grundstück. „Wie alt ist das Haus?“
„Mindestens 120 Jahre.“ Max ließ den Zeigefinger kreisen. „Das älteste hier in der Umgebung.“
„Gibts was zu trinken?“ Amelie grinste und deutete mit der Hand eine Trinkbewegung an.
Max stolzierte zur Hauswand, an der ein weißer Vorhang einen mannshohen, prächtig gefüllten Kühlschrank mit Glastür vor der Sonne schützte. „Tataa“, jubelte er und zog den Stoff weg.
Die Clique quittierte den Anblick mit Johlen.
Schnell sprang Max zu einem abseitsstehenden Tisch. „Erst mal anstoßen.“ Er zog ein Geschirrtuch von einer Batterie Trinkgläser. „Bedient euch!“
„Hast du ’ne Mucke für hier draußen?“, rief ihm Maja zu.
Max verschwand im Haus, schleppte eine große Bluetooth-Aktivbox in den Garten und reichte Maja sein Smartphone. „Hier, connecte das und such selbst was raus. Nur bitte nicht Coldplay.“
Bekräftigendes Gelächter der Gruppe ertönte. Maja änderte die Einstellungen des Handys im Handumdrehen und spielte einen Ariana-Grande-Remix ab. Sie blickte fragend in die Runde. Das rhythmische Kopfnicken der anderen nahm sie als Zustimmung und legte das Handy auf die Lautsprecherbox.

Max suchte Amelies Nähe und folgte ihr in den Garten. Beide schlenderten mit einem Glas in der Hand herum. Sie musterte die gemauerte Einfassung der Feuerstelle, er stand hinter ihr und hatte nur Augen für die weiße Haut ihres Nackens. „Boah, ist das ein Riesengrill“, rief sie.

Leon kam hinzu. „Wann schmeißt du den an? Das dauert, bis der ordentlich Glut hat.“ Er war immer der Erste beim Futtern.

„Geht bald los, du hast schon wieder Hunger, stimmt’s?“, erwiderte Max und deutete einen Boxschlag auf Leons Bauch an.

Der wehrte sich: „Hey, das sind alles Muskeln! Also, wie ist dein Plan?“

„Wir legen am besten jetzt los. Hilfst du mir? Wir brutzeln uns leckere Steaks mit tollem Raucharoma.“ Beim letzten Wort fiel es ihm schwer, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Max leerte seinen Drink schnell, marschierte ins Haus und kehrte mit einer riesigen Plastikbox voller Grillfleisch zurück. Auf dem Behälter balancierte er das Schraubglas mit dem Pulver.

Die Holzkohle brannte, während Leon die Flammen beobachtete.

Max legte den Grillrost auf, sah seinen Kumpel an und drängte: „Übernimmst du? Als unser Grillmeister?“

„Okay. Hast du eine große Grillzange?“

„Na klar, hole ich.“

„Lass dir Zeit. Ich brauche kräftige Glut, auf der eine dünne Ascheschicht …“

„Du kriegst das schon hin.“

Von der Terrasse klangen laute Satzfetzen und Musik herüber. Gläser klirrten.

Leon war am Rost in seinem Element. Geschickt drehte er die Steaks und tauschte deren Positionen pausenlos, so dass alles gleichmäßig garte. Er war so in seine Tätigkeit vertieft, dass er Max kaum wahrzunehmen schien, der sich neben ihn postiert hatte.

„Nichts toppt richtige Holzkohle! Vergiss einen Gasgrill, das Fleisch schmeckt nur halb so lecker damit.“ Leon wandte den Blick nicht vom Grill ab.

„Hast du schon mal Rauchkräuter auf der Glut probiert?“, fragte Max betont beiläufig.

„Ich weiß, was du meinst, aber nein, noch nicht.“

„Die Mischung hier ist perfekt für Grillkohle geeignet.“ Max hielt das Glas hoch und schüttelte es vor Leons Gesicht.

Der hob kurz den Blick und widmete sich gleich wieder den Fleischstücken. „Okay, mach du das, ich bin echt beschäftigt.“ Max feixte still in sich hinein.

Während Leon die Steaks wendete, öffnete Max den Schraubdeckel. Als Leon wieder ein Stück Fleisch anhob, schüttete er etwas Pulver durch die auf dem Rost entstandene Lücke. Sofort stieg weißer Rauch auf, der sich mit Holzkohleasche mischte. Beide traten einen Schritt zurück. Rings um den Grill rieselte ein Ascheregen nieder. Auf dem Bluetooth-Lautsprecher sammelte sich besonders viel. Als würde ein unsichtbarer, überdimensionaler Trichter die Asche zum Handy auf der Box leiten.

Max hob die Nase und sog den Duft ein, was er mit einem „Hmm“ begleitete.

Leon hustete. „Alter, das riecht krass. Woher …?“

„Extrem würzig, oder?“, fiel ihm Max ins Wort.

„Ja, schon.“ Leon fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und drückte kurz beide Nasenlöcher zusammen.

Max schüttete immer wieder eine kleine Menge aus dem Glas auf die Glut, sobald Leon Fleisch wendete. Dabei blieb auch Pulver an den Steaks kleben.

„Ist das so ’ne exotische Mischung?“, bohrte Leon nach.

„Yep, aus Nordostafrika.“ Max hatte Mühe, nicht loszuprusten, und kehrte ihm schnell den Rücken zu.

Die Steaks wurden dank Leons Geschick gleichzeitig gar und Max servierte alles auf einem riesigen Tablett.

„Leon, das sieht gut aus, du hast es echt drauf.“ Maja griff beherzt als Erste zu.

„Unser Profi-Grilleur.“ Amelie lallte nach ein paar Gläsern leicht.

„Das Wort hast du dir ausgedacht, oder?“ Leon badete im Lob.

„Überhaupt nicht. Das ist ein richtiger Beruf in der Gastro, habe ich im Jobcenter gelesen.“

Einige Zeit sprach keiner ein Wort, alle waren ins Essen vertieft. Max spähte dabei in die Gesichter der anderen, es schien allen zu schmecken. Experiment gelungen. Zeit, das Geheimnis zu lüften!

„Unser grandioses Grillaroma verdanken wir übrigens 3000 Jahre alten Ägyptern“, sagte Max.

Niemand reagierte darauf.

„Die Grillkräuter sind nach überlieferten Kräuterrezepturen der Pharaonen gemixt?“, riet Leon nach einer Weile.

„Nein, das Aroma entstand aus einer“ – Max machte eine Pause und hob die Stimme – „pulverisierten Mumie.“

Schweigen. Die Freunde sahen sich über die Teller hinweg an. Nico runzelte die Stirn.

Amelie durchbrach die Stille. „Häh?“

Leon hörte mit Kauen auf und stieß hervor: „Kann nicht sein!“

„Blödsinn.“ Nico schlug mit dem Griff seiner Gabel auf den Tisch.

Amelie übertönte das Stimmengewirr. „Wie meinst du das?“

„Es war Mu-mien-pul-ver.“ Max sprach langsam und überdeutlich wie zu einem Kind. „Zerkleinerte Mumie. Das stammt aus einer Apotheke und ist mehr als 100 Jahre alt.“ Er probierte ein Komikergrinsen. „Gut gereift.“

„Du hast ’nen Knall“, empörte sich Maja.

„Ich habe die Originaldose noch im Keller, ihr dürft sie gern ansehen, wenn ihr mir nicht glaubt.“

Amelie war blass geworden. Sie warf ihr Besteck hin, schoss hoch, stützte sich mit einer Hand am Tisch ab und hielt die andere vor den Bauch. „Ich glaub, mir wird schlecht“.

„Du verarschst uns, Alter.“ Leon klammerte sich wohl noch an die Hoffnung, alles sei nur ein Scherz.

Max versuchte eine Unschuldsmiene. „Es ist okay.“ Er gestikulierte wie ein Dozent. „Das Pulver ist eigentlich eine Medizin. Wirkt lebensverlängernd und so. Lässt sich problemlos schlucken, da passiert gar nichts.“

In diesem Moment verstummte die Musik aus der Bluetooth-Box.

„Was ist los?“ Nico äugte zum Tisch mit dem Lautsprecher und dem Handy. „Guckst du mal?“ Er richtete den Blick mit erhobenen Augenbrauen auf Maja.

Die stand auf und pustete eine dicke Ascheschicht vom Handy, ohne es anzuheben. Mit dem Unterarm wischte sie darüber und rieb dann die weißen Flocken von der Haut. Sie checkte die Einstellungen und vermeldete: „Der Player ist abgestürzt. Und die Telefon-App war aktiv.“ Maja tippte auf dem Display herum und die Musik setzte wieder ein.

Leon drehte sein Grillstück herum. „Das Pulver ist auch auf dem Fleisch drauf.“

„Eklig ist das schon, was du mit uns gemacht hast. Echt mieser Partygag.“ Nico schob seinen Teller von sich.

Leon schabte mit dem Messer über sein Steak und wischte die Klinge mit einer Papierserviette ab. Ihm fehlte die Ausdauer zur Beseitigung aller Pulverspuren, daher aß er beherzt weiter. „Vielleicht tut mir das Wundermittel gut. Und ich hab Rauch eingeatmet, das verlängert mein Leben.“ Er versuchte ein hämisches Lachen.

Als Amelie sah, dass Leon wieder zulangte, rollte sie mit den Augen.

Maja fixierte einen Punkt in der Ferne. „Mumien rächen sich, wenn man ihre Ruhe stört.“

„Boah, hör auf. Das kommt nur in Horror-Filmen vor. B-Movies, wohlgemerkt“, erwiderte Nico.

„Rache kann sich auch auf einer anderen Ebene vollziehen, metaphysisch oder so. Quasi als Denkzettel. Ein Körnchen Wahrheit steckt immer in so einem Mythos drin.“ Maja hatte sich im Schneidersitz niedergelassen.

Max konnte die Augen nicht von ihrem Bikini abwenden.

Nico war verstummt und las die ganze Zeit auf seinem Handy. „Wollt ihr was wissen? Mumienpulver essen ist eine Form von Kannibalismus. Ach shit.“ Er warf das Telefon auf den Tisch.

Alle palaverten nun durcheinander. Jeder wusste irgendwelche Fakten und Anekdoten über Mumien, Pharaonen und Pyramiden zu erzählen. Die Stimmung hob sich wieder. Gott sei Dank.

Von der Straße her vernahmen die Freunde das näherkommende Geräusch eines größeren Wagens. Der Motor verstummte. Das Schlagen von Türen war zu hören. Eine Frau und ein Mann passierten das Gartentor und schritten den Pflasterweg entlang. Ihre Gesichter waren ausdruckslos. In der Abenddämmerung glichen sie in ihrer dunklen Kleidung beweglichen Schatten.

Max ging den zweien entgegen. „Kann ich ihnen helfen?“ Er baute sich vor den Ankömmlingen auf, sein Puls beschleunigte sich.

„Ist das hier der Maienweg 14?“, fragte die schlanke Frau leise, aber betont. Sie stand hölzern vor ihm. Der untersetzte Mann neben ihr atmete noch schwer vom Gehen. Er trug einen schwarzen Anzug mit dunkler Krawatte, sein Hals spannte den weißen Hemdkragen.

„Äh ja, das ist hier richtig.“ Max nannte seinen Nachnamen in der Hoffnung, dass der Besuch der zwei ein Irrtum war.

„Bestattungsunternehmen Marzouk“, stellte sich die Frau vor. „Ich bin Helena Marzouk, guten Tag.“

Sie trug ein hautenges schwarzes Langarm-Shirt mit Spitzeneinsatz über der Brust, von dem Max nur schwer den Blick lösen konnte. Freizeitkleidung sah anders aus.

Der Mann an ihrer Seite räusperte sich und sagte in pastoralem Tonfall: „Alexander Marzouk. Mein Beileid. Wir sind so schnell wie möglich gekommen.“

Max stand konsterniert. „Das ist ein Fehler. Sie sind hier ganz falsch.“ Er fasste sich wieder.

„Wir wurden von Ihnen telefonisch über den Sterbefall informiert. Der Totenschein sei bereits durch den Arzt ausgestellt. Sie baten um zügige Überführung des Leichnams“, erwiderte Helena Marzouk nüchtern.

„Unmöglich! Es gibt hier keinen Toten.“ Er drehte sich zu den anderen um, von denen einige die Szene beobachteten. „Hier ist niemand gestorben, oder?“, rief er laut und versuchte ein Lachen. Er spürte Schweiß auf der Stirn.

Leon lachte trocken. Maja wiegte den Kopf.

Alexander Marzouk trat vor und verdeckte fast seine Partnerin. „Wir wurden angerufen, das ist Tatsache.“ Er musterte aus der Distanz die Partygäste. „Sollte es sich um einen Scherz handeln, dann erhalten sie von uns eine Zahlungsaufforderung für diesen Einsatz.“

Max stürmte ein paar Schritte Richtung Terrasse. „Hey!“, brüllte er, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Hat einer von euch mit denen telefoniert? Das ist kein Spaß mehr, es geht um Kohle!“

Alle schüttelten den Kopf.

Alexander Marzouk zog ein großes Mobiltelefon aus der Innentasche seines Jacketts. Er entsperrte das Gerät und tippte zügig auf dem Display herum. „Der Anruf erreichte uns an diesem Abend, Moment …“ Er wischte fahrig über den Bildschirm. „Hier, ich habs. Genau 19:46 Uhr.“ Triumphierend hielt er das Handy direkt vor Max. „Bitte sehr. Die Rufnummer ist gespeichert.“

Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Mit weit geöffneten Augen sah Max im Display die Telefonnummer seines eigenen Handys.

Die Bestatter waren, nicht ohne die Zusendung einer saftigen Rechnung anzukündigen, unverrichteter Dinge aufgebrochen. Max setzte sich ratlos zu den anderen. Die Partystimmung war verflogen.

„Unheimlich, das Ganze.“ Amelie war wieder nüchtern.

Nico versuchte, etwas Rationalität in das Geschehen zu bringen. „Hatte heute Abend jemand dieses Handy in der Mache?“

Maja erinnerte sich genau: „Das Teil lag ständig auf der Lautsprecherbox.“

Leon, der minutenlang auf seinem Smartphone gegoogelt hatte, eröffnete allen: „Soll ich euch was sagen, es gibt in ganz Deutschland keinen Bestatter namens Marzouk.“

„Da steckt etwas dahinter, ich sags euch“, orakelte Maja.

Nico starrte Max an. „Kam das Gespräch denn wirklich von deinem Telefon?“

Max öffnete die Anrufliste. Tatsächlich. Ihm wurde heiß. Exakt um 19:46 war ein ausgehender Anruf gespeichert.

Bild von Artie_Navarre auf Pixabay