Das Nano-Desaster

In Jan Enders Sichtfeld zuckte es. Trübe Flecken überlagerten seine Sicht auf die gegenüberliegende Sitzreihe in der S-Bahn. Was war das? Per Gedankensteuerung stellte er die Musik, die nur er über seine Audiotransmitter hörte, leise. Er starrte angestrengt geradeaus. Wie beim Überblenden zweier Szenen im Film sah er die anderen Fahrgäste vor sich und nahm gleichzeitig unscharfe Kleckse wahr.

Jan zwinkerte und bewegte den Kopf zu beiden Seiten. Das Phänomen blieb wie zermatschte Insekten auf dem Visier eines Motorradhelms sichtbar und machte jede Kopfbewegung mit. Er wischte sich mit den Handballen über die Augen in der Hoffnung, die Sinnestäuschung möge verschwinden.

„Alles okay?“, erkundigte sich Jans Sitznachbarin.

„Äh ja. Danke, mir geht’s gut.“ Er versuchte ein Lächeln, doch innerlich kämpfte er mit der Angst vor einer Sehstörung. Blitzschnell ließ er durch Gedankenbefehle seine Gesundheitsdaten auf dem Minibildschirm am Handgelenk erscheinen. Durch das Doppelbild fiel ihm das Lesen schwer, aber alle Werte leuchteten grün. Beruhigend. Er dachte an seine Schwester Bea, die niemals in den Genuss des Healthmonitorings kommen konnte. Oder besser, wollte.

Dann begannen die seltsamen Tüpfelchen, sich zu bewegen. Langsam verwandelten sie sich in Buchstaben und Zahlen, sauber in zwei Zeilen angeordnet. Sie ergaben keinen Sinn.

Jan wurde heiß. Ein Doppelbild zu sehen, war völlig unmöglich! Hatte er einen Schlaganfall? Sein Atem beschleunigte sich. Nein, das konnte nicht sein. Die Nanobots überwachten seine Organe. Jede Unregelmäßigkeit hätte einen MedAssist initiiert. Alles unter Kontrolle. Er bewahrte Ruhe, die medizinische Rundumkontrolle verlieh ihm Sicherheit. Etwas, das Bea nie erfahren konnte, denn sie lehnte die winzigen Roboter-Computer vehement ab. 

Jans Denken driftete ab, und ihm wurde schwindelig. Plötzlich sah er nur noch Schwärze. Das Letzte, was er spürte, war die harte Sitzbank, auf die er sank.

Es roch nach Desinfektionsmittel. Statt die Augen zu öffnen, blinzelte er nur. Jan hörte hallende Schritte und die gesenkten Stimmen zweier Menschen. Wo war er?

„Er kommt zu sich.“

„Dachte ich mir, dass es nicht lange dauert.“

Eine Hand legte sich warm auf seine Stirn, die Berührung beruhigte Jan.

„Was ist los?“, nuschelte er. Mühsam hob er die Augenlider. Vor ihm standen zwei Mediziner im weißen Dress.

„Alles in Ordnung, Herr Ender. Sie sind hier im Krankenhaus“, sagte einer betont deutlich und langsam. „Sie sind zusammengeklappt, aber kein Grund zur Sorge. Wir haben Sie gründlich durchgecheckt, alle Organe tipp-top, Herz-Kreislauf wie bei einem Zwanzigjährigen.“

Jans letzte Erinnerung war die Fahrt in der Bahn. Ihm war schwarz vor Augen geworden. Hatte man ihn in eine Notaufnahme verfrachtet?

„Wie lange …?“, stammelte er und sah zum Arzt hinauf.

„Zwei Stunden sind seitdem vergangen. Sie haben nichts verpasst.“

Der andere beugte sich herab. „Ruhen Sie sich etwas aus. Wir unterhalten uns später.“

Jan hatte keine Ahnung, was ihn umgehauen hatte, aber seine Sicht war wieder klar. Alles in Ordnung. Nur seine Gedanken schweiften ständig ab.

Eine halbe Stunde später führte ihn ein Pfleger in das Büro des Stationsarztes.

„Ich sehe, Sie sind fit und in Form“, begrüßte der ihn, und sie setzten sich an einen Besuchertisch.

„Herr Ender, ich komme gleich zum Punkt. Sie sind körperlich in Ordnung, das erwähnte ich bereits.“ Der Arzt stützte sich auf die Ellenbogen. „Sie wissen, dass ein Teil der Nanobots in Ihnen der Gedankensteuerung dient. Sie verweilen permanent im Blutkreislauf des Gehirns. Diese Bots erzeugen aus Ihren Gedanken Steuerbefehle und übertragen sie per Funk an Geräte und Apps. Aus Haftungsgründen verlangen die Versicherungen, dass jegliche abgestrahlten Signale in den Bots für zehn Tage gespeichert bleiben.“

Nanobots zur Gedankensteuerung verweilen permanent im Blutkreislauf des Gehirns. Diese Bots erzeugen aus Gedanken Steuerbefehle und übertragen sie per Funk an Geräte und Apps.

Jan nickte. „Ist mir bekannt. Und weiter?“

„Wir haben die Diagnoseroutine aufgerufen. Heute Morgen generierten die Bots in Ihrem Kopf für ein paar Minuten elektrische Wechselfelder.“

„Wie sollen sie sonst meinen Armbandbildschirm oder meinen Audiotransmitter steuern?“ Er dachte an seine Schwester. Die bediente alle Geräte noch auf altmodische Art mit den Händen, durch Schalter, Berührungsdisplays oder Gesten.

„Ich habe mich unklar ausgedrückt. Es handelt sich nicht um digitale Funksignale. Ihre Nanobots erzeugten einfache, analoge Muster.“

Jan blickte dem Arzt in die Augen. „Wozu dienen die?“

„Diese Spannungsimpulse sind sinnlos, damit lässt sich keinerlei Elektronik steuern.“ Der Mediziner lehnte sich zurück und tippte seine Fingerspitzen gegeneinander. „Vor ein paar Tagen wurde neue Software für die Nanobots der letzten Generation verteilt. Sie wissen schon, neue Features, bessere Performance, das Übliche eben. Während des Updates bildeten sich kurzzeitig unbestimmte elektrische Potenziale. Ihr Blackout war wohl eine Anpassungsreaktion an die verbesserte Hirn-Computer-Schnittstelle. Es kursieren Berichte über sehr, sehr seltene, aber ähnliche Nebenwirkungen. Die Regierungsbehörde ist nicht glücklich darüber und verfolgt die Fälle aufmerksam. Allen Betroffenen geht es gut, die beteiligten Firmen analysieren das Phänomen bereits, um künftig …“ Er winkte ab. „Na, Sie wissen schon.“

Jan schoss hoch. „Und? Das war alles? Können Sie sonst nichts machen?“

Der Arzt zuckte nur mit den Schultern.

„Unglaublich!“ Wortlos stürmte er aus dem Büro. Die Gedanken rasten in seinem Kopf. Das Verlassen des Krankenhauses glich einer Flucht.

Er stapfte drei Stunden durch die Straßen der Stadt, angetrieben von einem pulsierenden Reggae-Rhythmus in seinen Audiotransmittern. Trotz Bewegung und frischer Luft wollte sein Verstand nicht klarer werden. Als wäre sein Gehirn ein Matschhaufen.

Er zwang sich zum Denken: Sollte er Bea kontaktieren? Als Fundamentalverweigerin jeglicher Nanobot-Anwendungen in der Humanmedizin würde sie ihm gleich wieder einen Vortrag über ihre Sicht der Dinge halten. Das, was ihm passiert war, wäre Wasser auf die Mühlen ihrer Argumente. Nein, keine gute Idee.

Beas Hobby war ihm suspekt. Als Mitglied einer Aktivistengruppe gegen den Einsatz von Nanobots im Körper verwehrte sie sich einer Entwicklung, die einst mit der Erfindung der Brille und einfacher Prothesen ihren Anfang genommen hatte. Der Mensch strebte danach, mit Technik nachlassende oder verlorene Körperfunktionen zu ersetzen. Was gab es Nützlicheres, als mit Hörgeräten, Herzschrittmachern oder Kunstherzen das Leben zu verbessern? Die Bots waren eine konsequente Weiterentwicklung dieser Idee.

Die lange Bewegung war für ihn ungewohnt, und so zog es ihn nach Hause. Immerhin, laufen mussten derart verbesserte Menschen noch selbst.

Mitten in der Nacht erwachte Jan. Es drängte ihn, seine Gedanken zu notieren, und er öffnete eine Notiz-App. Wie in Trance schrieb er Stichpunkte und Zahlenkolonnen auf. Fertig. File abschicken, löschen. Erledigt! Sein Kopf fiel zur Seite, die Anstrengung war vorüber. Der Schlaf überwältigte ihn.

Am Morgen erinnerte er sich dumpf. Was war geschehen? Er hatte etwas aufgeschrieben, aber was? Wie durch Nebel sah er zurück. Als wäre er aus einem Traum erwacht, an den er sich mit jeder Minute schwerer erinnern konnte. Vielleicht hatte er es tatsächlich nur geträumt. Immerhin herrschten unbestimmte Spannungspotenziale in seinem Kopf!

Der Gedanke ließ ihn nicht los. Er kontaktierte seinen Kumpel Fred, IT- und Elektronikexperte der alten Schule. Der verwendete in seinem Hobbylabor heute noch altertümliche Computer mit Bildschirmen, Tastatur und Maus, die er mit den neuesten Hightech-Entwicklungen koppelte. Seine Sensorik-Expertise war in Fachkreisen legendär.

Freds Gesicht erschien auf dem Interkom.

„Hey Fred, kannst du mir helfen? Hast du Zugriffsmöglichkeiten auf meine Nanobot-Signale?“

Fred grinste. „Außerhalb der offiziellen Diagnoseprogramme? Probiere ich gern. Einen Ruheständler wie mich reizen Herausforderungen.“ Er runzelte die Stirn. „Jan, ist etwas passiert? Komm’ vorbei und erzähl mir alles, okay?“

In Freds privatem Computerlabor sah es aus wie in der Garage eines Start-ups. Kabel, Antennen, ausgebaute Platinen und halb gefüllte Computergehäuse stapelten sich in jeder Ecke. Fehlten nur noch leere Pizzaschachteln.

„Was hast du vor?“, fragte Jan, die Hände in die Seiten gestemmt, nachdem er Fred eingeweiht hatte.

„Die Daten sind noch nicht gelöscht. Ich kann sie am besten abgreifen, wenn der Abstand zwischen meinen Sensoren und deinen Bots sehr klein ist.“ Er schob einen Stuhl auf eine Antistatikmatte und wies Jan an: „Setz dich dorthin.“ Er montierte kleine Antennen an einen Helm aus Drahtgeflecht. „Halt mal still.“ Mit gespreizten Fingern setzte er die Haube auf Jans Kopf.

Inmitten des Wirrwarrs saß Jan ein paar Minuten regungslos da und sah aus wie ein Friseurkunde beim Haaretrocknen. Fred tanzte zwischen Oszilloskop und Bildschirmen hin und her. Nach der Datenaufnahme hob er den Sensorhut, und Jan sprang hoch, froh, nicht mehr still sitzen zu müssen.

Fred zog eine Tastatur mit halb abgerubbelten Buchstaben heran. Seine Finger flogen immer schneller über die Tasten, und das Klacken tönte durch den Raum.

„Irre!“ Er hielt inne.

„Was meinst du?“ Jan stand regungslos da.

Fred machte eine dramatische Pause. „Hast du schon von der Elektroenzephalografie gehört?“

Jan nickte.

Fred gestikulierte wild. „So analysiert man die Hirnaktivität. Frequenz und Wellenstruktur der ominösen Spannungsmuster deiner Bots sind identisch mit bioelektrischen Signalen des menschlichen Gehirns, genau wie bei einem EEG.“

„Die Nanobots haben meine elektrischen Impulse kopiert?“ Jan tippte sich an die Stirn.

„Langsam.“ Fred stolzierte durch den Raum wie ein Dozent. „Das sind keine Nachbildungen, es sind eigens erzeugte Muster. Ich bin kein Neurobiologe. Aber um Himmels willen, diese Impulsfolgen könnten deine Gehirnaktivität direkt beeinflusst haben.“

Jan schluckte.

Fred setzte sich, trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Tisch und blickte ihm ins Gesicht. „Ist dir irgendetwas aufgefallen, bevor du in der Bahn ohnmächtig geworden bist?“

Er schilderte das Auftauchen der Flecken, die sich zu Buchstaben und Zahlen verwandelt hatten. Freds Augen weiteten sich.

Am Abend lag Jan auf dem Bett und grübelte. Hatten die Gegner der Implantation von Nanobots mit ihren Befürchtungen etwa recht? Die kleinen Wunderwerke der Technik überwachten alle Organfunktionen und maßen physiologische Werte. Kurz nach der Einbringung drangen sie in alle Organe ein, manche blieben im Blutkreislauf und wanderten durch den Organismus. Krankheiten wurden systematisch ausgerottet, denn die Nanobots reparierten auch geschädigtes Gewebe. Medizinischer Fortschritt, der einen Bogen um seine Schwester Bea machte.

Nanobots - miniaturisierte Roboter-Computer

Er setzte sich auf. Konnte diese Technologie fehleranfällig sein, obwohl Dutzende Firewalls und Diagnoseroutinen in den vernetzten, miniaturisierten Roboter-Computern permanent die Sicherheit des Nutzers garantierten?

Jan überwand sich schweren Herzens und rief Bea über Interkom an. „Es geht mir um Nanobots. Aber … lass uns bitte nicht streiten. Ich möchte ein paar Dinge von dir wissen.“ Er schilderte alle Ereignisse seit dem Blackout in der S-Bahn.

Bea näherte sich der Kamera, bis ihr Gesicht die ganze Bildschirmbreite füllte. „Du weißt, womit die Aktivität von Hirnzellen einhergeht? Es sind elektrische Zustandsänderungen. Neurologen bezeichnen sie als Alpha-, Beta-, Gamma- und sonst was für Wellen.“

Jan nickte. „Schon mal gehört.“

Sie setzte sich kerzengerade auf. „Dir ist klar, dass die Spezialbots in deinem Kopf eine Gehirn-Computer-Schnittstelle herstellen?“ Sie hob die Arme und berührte mit den Fingerspitzen ihren Kopf. „Mal ganz simpel gesprochen: Sie erfassen die beim Denken entstehenden analogen Spannungsmuster und übersetzen sie in binäre Signale.“

„Hmm“, brummte er.

Sie ließ ihren Zeigefinger kreisen. „Was, glaubst du, passiert, wenn man diesen Vorgang umkehrt?“

Er hob die Augenbrauen und räusperte sich. „Ich ahne, was du meinst. Aus digitalen Informationen werden wieder Spannungsschwankungen erzeugt. Mit den Bots als Elektroden im Hirn.“

„Stark vereinfacht, aber richtig.“

„Die Forschung daran wurde doch nie weiterverfolgt.“

Bea senkte die Stimme. „Offiziell nicht. Aber unserer Aktivistengruppe sind Hinweise darauf zu Ohren gekommen. Was wäre, wenn solche elektrischen Felder in einer Weise generiert werden, die das Gehirn sofort versteht?“

Jans Stirn legte sich in Furchen. „Dann würde ich irgendwas fühlen, das nicht meinen Sinneswahrnehmungen entspricht? Etwas denken, das ich gar nicht denken will?“

„Exakt.“ Sie atmete auf. „Unsere Gruppe lehnt die Nanobots aus mehreren Gründen ab. Einer davon ist die Anfälligkeit für Manipulation durch Hacker.“

„Du meinst also, das ist mir passiert.“ Er stützte den Kopf auf die Hände. „Ich kann’s kaum glauben.“

Sie lehnte sich weit zurück. „Einige von uns sind Programmierer, Elektronikentwickler und Netzwerk-Gurus. Echte Spezialisten. Wir besitzen Interpretersoftware, die aus solch analogem Wellensalat Bilder und Töne erzeugt.“

Er reagierte nicht. Worauf ließ er sich hier ein?

Bea erhob sich und stützte die Arme auf dem Tisch auf. „Fred hat die Daten deiner Bots aufgezeichnet?“

„Er hat alles ausgelesen, komplett.“

„Bitte ihn, die Dateien in eine Cloud zu kopieren und uns Zugriff darauf zu geben.“ Sie richtete den Zeigefinger auf die Kamera. „Er soll mich mal anrufen.“

Am Morgen erinnerte sich Jan undeutlich daran, wie er mitten in der Nacht wieder dringende Notizen aufgeschrieben hatte. Was war mit denen geschehen? Es existierte eine diffuse Erinnerung, aber der Gedanke ließ sich nicht klar fassen. Verdammte Grütze im Hirn!

Er rief Bea über Interkom an. Ob sie Neuigkeiten für ihn hatte? Sie erschien auf dem Bildschirm, ihre geröteten Wangen zeigten, dass sie in etwas vertieft war. Bei seinem Anblick huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

„Dein Kumpel Fred ist ja der Hammer.“

„Echt?“ Fred tat zwar alles, um sein Nerd-Image zu pflegen, aber er konnte Menschen für sich einnehmen.

„Ein cooler Typ und hat mega Ahnung. Er hat geholfen, die Nanobot-Daten zu analysieren.“ Hinter hier wuselten andere Aktivisten herum.

„Fehlt noch, dass du ihn fragst, ob er sich euch anschließt.“

Bea legte das breiteste Grinsen auf, das Jan seit langer Zeit bei seiner Schwester gesehen hatte.

„Okay, kapiert.“ Das sah Fred ähnlich.

Ihr Lächeln wich einem ernsten Ausdruck. „Was wir da herausgefunden haben, ist nicht annähernd so angenehm.“

„Nein?“

„Nein.“

„Erzähl schon!“

„Du bekommst in regelmäßigen Abständen einen Code im Sichtfeld angezeigt.“

„Du meinst diese Buchstaben und Zahlen?“

„Kurz vor deinem Blackout erschien der Code zum ersten Mal.“ Bea streckte den Daumen hoch, als wollte sie abzählen. „Später geschah das unbewusst und ist dir nie wieder aufgefallen.“

Aus der Gruppe hinter Bea löste sich Fred und kam näher. Sie machte ihm etwas Platz, und er setzte sich neben sie. Beide schauten ernst in die Kamera.

„Hast du in den letzten zwei Tagen irgendetwas geschrieben? Wörter, Zahlen?“, fragte Fred und rückte näher an die Kamera heran.

Jan grübelte. „Äh, gut möglich. Kann mich aber nicht genau erinnern.“

„Dachte ich mir.“ Fred nickte. „Und du hast das Aufgeschriebene verschickt und gleich gelöscht?“ Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage.

Jans Gedanken gelangten nur diffus zum Kern der Erinnerung an seine nächtlichen Aktivitäten, er schweifte wieder und wieder ab. Ja, er hatte etwas versendet. Aber an wen?

„Bitte hör Fred jetzt bis zum Ende an“, beschwor ihn Bea.

Genug! Empört war Jan aufgesprungen und hatte seine Wohnung verlassen. Das konnte nicht sein! Er, der er immer die Kontrolle über sein Leben behielt, sollte ein willfähriges Opfer einer Clique sein, die ihn nicht nur manipulierte, sondern auch missbrauchte?

Die Nanobots, so hatten es Bea und Fred erklärt, würden ihm Steuerbefehle ins Unterbewusstsein einpflanzen. Wie bei einem Computer stellte das den Input für eine Aufgabe dar, die er dann löste, ohne es zu bemerken. Das Ergebnis würde er gehorsam wie ein Automat notieren und dem Auftraggeber zusenden.

Der Mensch nutzt nur einen Teil seiner Hirnkapazität. Es blieb genügend Leistungsfähigkeit für Denkaufträge übrig, die unbewusst abgearbeitet werden konnten. Die Qualität der Lösungen übertraf die der besten Quantencomputer, denn neben der reinen Rechenleistung kamen menschliche Intuition und Kreativität mit ins Spiel, etwas, das Supercomputer nicht leisten konnten.

Was die Gruppe ihm anvertraut hatte, klang völlig irre. Es konnte sein Vertrauen in diese Technologie so erschüttern, dass er künftig auf Nanobots verzichten müsste. Das wollte er keineswegs. Es galt, die Situation in Ruhe zu überdenken. Jan hatte sich darauf eingelassen, die Nanobots temporär zu deaktivieren.

Als Jan an einem Restaurant vorbeikam, trat er kurzerhand ein und suchte einen freien Tisch. Hier konnte er ungestört grübeln und dabei die anderen Gäste beobachten.

Das zweite Glas Wein stand vor ihm, als eine Frau seinen Tisch ansteuerte. Er blickte auf.

„Iris Bouras, guten Tag“, stellte sie sich vor. „Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“

„Bitte.“ Er versuchte, lässig zu klingen.

„Sie sind Jan Ender.“

„Sie kennen meinen Namen?“ Eigentlich wunderte ihn heute nichts mehr.

„Natürlich. Um es genauer zu sagen, wir kennen uns gegenseitig.“

„Ich wüsste nicht …“

„Lassen Sie es mich erklären. Ich arbeite in einer Forschungsabteilung von Neuroture. Von dieser Firma haben Sie schon gehört?“

Jans Puls beschleunigte sich. „Klar, die stellen die Nanobots her …“

„… die Sie heute deaktiviert haben.“

„Ja, und?“

„Wir hatten vereinbart, dass ich Sie in einem solchen Fall aufsuche und alles erkläre.“

Jan wurde ungehalten. „Ich kenne Sie doch gar nicht!“

„Sehen Sie sich dieses Video an.“ Sie gab eine Datei frei, die er direkt an seinem Handgelenkbildschirm betrachten konnte. Eine stumme Filmsequenz startete, er sah sich selbst in einem Raum mit zwei Männern in Businessanzügen. Eine Frau kam hinzu, dieselbe, die jetzt vor ihm saß. Im Video unterhielten sie sich angeregt, und Jan zog einen kleinen Papierstapel heran. Zügig unterschrieb er auf jeder Seite und legte den Stapel beiseite.

„Sie haben vor einem Monat einen Vertrag mit Neuroture unterzeichnet. Wir haben Freiwillige gesucht, die unsere Forschung in der Bioinformatik voranbringen. Wir testen eine neue Technologie …“

„… die Menschen zu Computern deklassiert!“ Jan ahnte, worauf die Erklärungen hinausliefen. Er spürte Wut aufsteigen.

„Sie waren von der Aussicht begeistert, brachliegende Hirnkapazität zu nutzen. So wie die anderen Probanden auch.“

„Worum ging es bei diesen Aufgaben eigentlich?“

Iris Bouras senkte die Stimme. „Neuroture forscht an der Vorhersage von Proteinfaltungen. Diese Simulationen sind sehr rechenintensiv. Jede Medikamentenentwicklung beruht darauf. Neuroture hat nun einen neuen, smarten Algorithmus als Open Source freigegeben, der im Handumdrehen Ergebnisse liefert und es erlaubt, in kürzester Zeit sichere Präparate gegen die verschiedensten Krankheiten zu entwickeln. Unser Geschenk an die Menschheit.“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Da hatte jemand eine geniale Idee.“

„Warum erinnere ich mich nicht an Sie, die Vereinbarung und das alles?“ Jan verschränkte die Arme vor der Brust.

„Für unverfälschte Forschungsergebnisse musste Ihre Erinnerung daran gelöscht werden. Damit waren Sie einverstanden, das ist auch im Vertrag festgehalten.“ Mit einem Ausdruck von Bedauern sagte sie: „Ich nehme an, Sie steigen aus dem Programm aus?“

Er nickte.

Iris Bouras erhob sich vom Tisch. „Unsere Rechtsabteilung klärt abschließende Details.“

Bevor sie gehen konnte, fragte er: „Warum sollte gerade ich mich auf so etwas eingelassen haben?“

„Wegen Ihrer Schwester, haben Sie uns erklärt.“

„Wie bitte?“

„Sie wollten sie davon überzeugen, wie segensreich Nanobots sind und dass diese Technologie ungefährlich ist. Mehr noch: dass sie ein wahrer Segen sein kann.“

Jan sackte zusammen.

Sie wandte sich ab und ging zum Ausgang.

Er rief ihr nach: „Wäre alles nach Plan verlaufen, hätten Sie mich irgendwann aufgeklärt, was da in meinem Kopf stattgefunden hat?“

Sie lächelte stumm zurück und verließ den Raum.

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