Die Genetikerin Cora Reimer knallte den Papierstapel mit Tabellen und portugiesischen Beschriftungen auf den Tisch. Während Prof. Ribeiro die Morgenbesprechung im gut gefüllten Meetingraum des Centro de Biologia Molecular e Ambiental eröffnete, sorgte Getuschel für Unruhe.
„Konzentrieren wir uns“, rief Prof. Ribeiro in die Runde, und es wurde still. „Was wissen wir?“
Endlich durfte Cora sprechen. „Die beauftragten KI-Experten haben den auffälligen DNS-Abschnitt von Ginkgo biloba decodiert. Die scheinbar willkürliche Abfolge aus den Basen A, C, G und T konnten sie in eine lange Zahlenreihe mit Trennzeichen dazwischen übersetzen.“
Anna hob die Hand und erhielt das Wort. „Nur damit ich es richtig kapiere: Du hast die DNS sequenziert und die Abschnitte analysiert, die nicht zur Bildung von Proteinen dienen. Und in dieser Junk-DNS ist eine Zahlenfolge verschlüsselt?“
Cora nickte. „Die Zahlen steigen monoton, aber wir wissen nicht, was sie bedeuten.“
„Wie wurde die Verschlüsselung in der Basenabfolge überhaupt entdeckt?“, fragte jemand.
„Ein Fehler in der Matrix.“ Cora grinste breit.
Die meisten kapierten die Anspielung auf die Filmtrilogie sofort.
„Nein, im Ernst, es war Zufall. Ich habe die Sequenz im Institut als E-Mail-Anhang verschickt, und ein Virenscanner hat Alarm geschlagen, weil vermeintlich ein Schadcode enthalten war“, erklärte sie. „So kam alles ins Rollen.“
Anna meldete sich erneut. „Wie ist eine solche Codierung im Erbgut zustande gekommen?“
Die erfahrene Botanikerin Alícia Torres ergriff das Wort. „Die Verschlüsselung ist unmöglich durch Mutation entstanden. Und für den Fortbestand der Art Ginkgo biloba ist sie unnötig.“ Sie zog zischend Luft ein. „Also bleibt als Ursache nur ein künstlicher Eingriff in die DNS.“
Erneut setzte Gemurmel im Raum ein. Cora schloss die Augen. Was für ein abenteuerlicher Gedanke.
„Eine Manipulation im Erbgut mittels genome editing! Aber wer oder was hat vor Millionen von Jahren die Ginkgo-DNS verändert?“, fragte sie und rieb sich über die Stirn. „Und warum gerade der Ginkgo?“
„Den Ginkgobaum gibt es seit über 200 Millionen Jahren“, erklärte Alícia. „Er ist eine der ältesten noch existierenden Pflanzen. Ein lebendes Fossil. Das Gewächs ist äußerst resistent gegenüber Krankheiten und dient medizinischen Zwecken. Nach der Atombombendetonation über Hiroshima bildete ein verbrannter Ginkgobaum im Jahr darauf bereits wieder neue Triebe.“
„Wollte jemand eine verschlüsselte Information über Jahrmillionen bewahren, wäre also die Wahl dieser Pflanze ein Glücksgriff. Oder Absicht“, sagte Cora.
„Gut, aber wieso sollte jemand Informationen in der DNS dieser Pflanze speichern? Wer hat die Daten hinterlassen, wem könnten sie nutzen?“, fragte Prof. Ribeiro, während er verstohlen ein Ratgeberbuch beiseitelegte. Cora sah die Phrase „um die Ecke denken“ auf dem Buchcover. Sieh an, sogar der Chef war manchmal mit seinem Latein am Ende! Sie unterdrückte ein Lächeln.
Ein Doktorand meldete sich. „Wenn ich die Fakten als bekennender Trekkie betrachte, ist die Hälfte des Problems schon gelöst“, sagte er und gluckste vor Vergnügen.
„Was hat Star Trek damit zu tun?“ Cora tippte sich an die Stirn.
„Außerirdische! Die haben die Erde besucht, das Erbgut des Ginkgobaums manipuliert und so eine Botschaft hinterlassen.“
In das schallende Gelächter rief Alícia ernst: „Ruhe bitte, alle miteinander. So blöd ist die Idee gar nicht. Kein künstlicher Datenspeicher würde eine so lange Zeit unbeschadet überstehen. Keiner.“
Cora sah in die Runde. „Hat irgendwer eine bessere Erklärung?“ Niemand sagte etwas. „Dann ist unsere Arbeitshypothese: Es waren Aliens, die uns etwas mitteilen wollten.“ Ihr Blick huschte hin und her.
„Von mir aus. Was wir entdeckt haben, ist so verrückt, dass ich nichts mehr ausschließe“, sagte Prof. Ribeiro und fuhr fort: „Wir sollten aber mit der Veröffentlichung warten, bis wir die Zahlenfolge verstehen.“
„Was sollen wir tun? Wir sind keine Kryptologen.“ Cora zuckte entschuldigend mit den Achseln.
Prof. Ribeiros Finger trommelten auf seinem Ratgeberbuch.
„Brainstorming. Hier und jetzt. Die Frage lautet: Welche Informationen haben die Außerirdischen vor 200 Millionen Jahren hinterlassen? Vielleicht haben wir eine Idee!“ Er blickte zu Alícia. „Könnten Sie bitte übernehmen?“
Einige Teilnehmer wirkten belustigt, andere schienen skeptisch, immerhin ging die Problematik völlig am Arbeitsgebiet der Biologen vorbei.
Alícia stand auf und trat an das Whiteboard. „Denkt dran, keine Bewertung von Ideen. Spinnt ruhig so richtig rum!“
„Wäre ich ein Außerirdischer, dann würde ich die Koordinaten meiner Heimatwelt preisgeben“, sagte ein Doktorand.
Alícia notierte es ohne Kommentar.
„Die Raumfahrer haben ein Abbild von sich hinterlassen“, schlug Anna vor.
„Vielleicht würden Aliens eine Radiofrequenz angeben, mit der man künftig Signale ihrer Heimatwelt empfängt“, regte jemand an.
„Hoch entwickelte Außerirdische wären durch Messungen und Simulationen in der Lage, zukünftige Supernovas oder Sonnenaktivitäten vorherzusagen, die das Leben Millionen Jahre später bedrohen würden. Das Wissen könnte das Überleben einer Zivilisation sichern“, sagte ein anderer.
Cora schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Die Zahlen sind eine Zeitreihe!“ In ihrem Nacken prickelte es.
„Du meinst, sie geben Ereignisse auf einer Zeitskala an?“, fragte Anna.
„Genau. Aber welche?“ Cora blickte in die Runde.
Alle Vorschläge wurden zum Schluss priorisiert, und Coras Idee stand auf Platz eins.
„Wir kennen die Einheit der Skala nicht. Sind es Sekunden, Tage, Jahrzehnte oder etwas anderes?“, seufzte Anna.
„Die Zahlen machen Angaben über die Zukunft ab einem Zeitpunkt vor mindestens 200 Millionen Jahren. Wir müssen alle bekannten gleichartigen Phänomene bis zu dieser Zeit in einem Diagramm zusammentragen. Wir stauchen oder strecken die Zeitreihe, bis wir Übereinstimmungen sehen. Es wird nicht supergenau funktionieren, da ist Intuition gefragt“, sagte Alícia.
Cora beeindruckte Alícias zielstrebige Art, also schlug sie vor: „Nehmen wir uns große Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge und Klimaveränderungen vor?“
Alle nickten und begannen, auf ihren Laptops zu tippen.
In den folgenden Stunden wich die Euphorie einer Ernüchterung. Es ließ sich keine Übereinstimmungen von wichtigen Ereignissen der Erdgeschichte mit den Daten der Zeitreihe finden.
Was hatten sie übersehen? Cora ging umher und blickte auf die weiße Tafel, auf der Urlaubsbilder der Mitarbeiter mit bunten Pinnwandmagneten arrangiert waren. Ein Foto war verrutscht und hing schief. Sie schob den Magneten zur Seite, um das Bild geradezurücken. Dabei kam sie dem Magneten daneben zu nahe, sodass dieser abgestoßen wurde und einen Millimeter über die Pinnwand wanderte. Sie spielte gedankenverloren damit herum, bis es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Magnete! Sie zogen sich an oder stießen sich ab. Sie atmete schneller. Die Erde besaß ein Magnetfeld mit Nord- und Südpol. Jede Kompassnadel wies nach Norden. Aber das war in der Erdgeschichte nicht immer so gewesen. Ihr Puls hämmerte.
„Machen wir zehn Minuten Pause? Bin sofort wieder da“, rief sie in den Raum.
Als Cora kurze Zeit später ins Besprechungszimmer zurückkehrte, wurde sie von heftigem Tuscheln begrüßt. Sie schob einen USB-Stick in ihren Laptop und schloss den Beamer an. Die vorbereitete Grafik mit den entschlüsselten Zahlen als Balken in einem Zeitstrahl erschien. Darunter zeigte sie einen zweiten Strahl mit dick markierten Punkten.
„Das, liebe Freunde, sind die uns bekannten Umkehrungen des Erdmagnetfeldes. Sie finden im Mittel alle 300.000 Jahre statt“, sagte Cora mit Zittern in der Stimme.
Eine Animation stauchte den ersten Strahl, bis plötzlich fast alle Markierungen übereinstimmten. Schlagartig herrschte Stille.
„Die Außerirdischen haben ein geodynamisches Modell des Erdinneren entwickelt und die Umpolungen über lange Zeiträume vorherberechnet.“
Cora legte eine Pause ein und lauschte dem Raunen im Raum.
Anna erhob die Stimme. „Diese Wechsel verursachen Klimaveränderungen und lassen kosmische Strahlung durch die Atmosphäre dringen. Wollten die Außerirdischen uns warnen?“
„Sehr wahrscheinlich. Aber haltet euch fest! Es gibt hier auch zwei Zahlen, die nicht in das Schema passen. Sie sind durch ein doppeltes Trennzeichen markiert“, antwortete Cora.
Mit dem Laserpointer zeigte sie auf dem oberen Strahl eine Stelle.
„Es sind dieser Zeitpunkt“, der rote Lichtfleck wedelte nach rechts, „und dieser. Die Angabe links entspricht dem Zeitpunkt, als die Erde das erste Mal Besuch erhielt und die Ginkgo-DNS manipuliert wurde.“
Alícia sprang auf und trat an die Leinwand, um besser zu sehen. „Der Punkt da rechts liegt in der nahen Zukunft!“
Cora nickte und sah in die Runde. „Die Menschheit sollte sich auf den nächsten Besuch vorbereiten.“
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