38 Minuten

In der Nacht wurde Ramona Konrad von einer rätselhaften, langen Funksequenz überrascht. Das aufregende Neue daran war die Dauer von mehr als einer halben Stunde. Eine zusammenhängende Folge von unbekannten Funksignalen dieser Länge wurde noch nie zuvor empfangen. Was konnte diese Impulsfolge bedeuten? Wer sendete sie aus? Von der gleichen Quelle stammten ähnlich mysteriöse Signalfolgen von wenigen Sekunden, die im letzten halben Jahr sporadisch aufgezeichnet wurden. Nie waren sie zu entschlüsseln oder Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen gewesen. Waren es künstliche Signalreihen?

Ramona sah einen rosa Streifen am Horizont, das Ende ihrer Nachtschicht kündigte sich an. Sie schob die Lesebrille auf den Kopf und fixierte mit beiden Händen ihre langen Haare wie mit einem Haarreif. Währenddessen wurden mehrere Terabyte an Daten, die aus den analogen Signalen der Antenne mit 64 Meter Durchmesser entstanden, per Glasfaserkabel an einen Zentralrechner gesendet.

Ed Dubois betrat den Kontrollraum im Rundbau unter der Antenne. Mit ihm zog ein Hauch Morgenluft herein. Der Australier war diensthabender Operations Scientist. Ramona mochte seine aufmerksame Art ihr zuzuhören und schätzte seine Meinung als Wissenschaftler. Manchmal ließen beide ihrer Phantasie freien Lauf und teilten gern originelle Gedanken. Dann erdachten sie eine Zukunft mit selbstbewussten Computern, Cyborgs und kälteschlafenden Raumfahrern.

„Ich habe das Logbuch auf neuesten Stand gebracht, dann hast du heute mal nichts zu meckern“, sagte Ramona zu Ed.

„Du lernst es irgendwann!“, neckte er sie. „Lass sehen.“ Er beugte sich im Stehen zum Laptopbildschirm herunter.

„Hast du Dich hier vertippt?“, fragte er forsch und zeigte auf eine Zeitangabe.

Ramona zog die Brille vor die Augen, folgte der Richtung seines Zeigefingers und las.

„Nein, es gab tatsächlich diese eine Sequenz, die war deutlich länger als sonst. Ein absolutes Novum!“, entgegnete sie entschieden.

Er blickte sie kurz erstaunt an und widmete sich wieder dem Logbuch. „Genau 38 Minuten“, bemerkte er wenig später. „Sensationell!“

Ramona dachte daran, wie die Entdeckung der sekundenkurzen Funksignale vor Monaten für Aufsehen sorgte. Sie wusste, dass nur eine starke Signalquelle als Ursache infrage kam. Interferenzen irdischer Radioquellen oder Funkwellen von Satelliten mit großen Umlaufbahnen wurden als Auslöser ausgeschlossen. Es gab keine Regelmäßigkeiten in den Impulsfolgen. So kamen weder rotierende Sterne, Quasare, Pulsare noch stellare Eruptionen als Ursprung infrage. Die Quelle der Impulssequenzen musste ein Gebiet innerhalb unserer Galaxis in 20 Lichtjahren Entfernung sein. Eine sinnvolle Auswertung der Daten scheiterte immer wieder. Sie grinste beim Gedanken an Alien-Enthusiasten, die den ersehnten Durchbruch bei der Suche nach außerirdischen Zivilisationen witterten. Realistisch betrachtet erwartete sie keine außergewöhnliche Pionierleistung während ihrer Forschungsarbeit. Würde die heutige lange Signalfolge überhaupt Erkenntnisse bringen?

Ramona brauchte jetzt eine Unterbrechung, um ihre Gedanken zu ordnen. Das Schichtende als Operator nahte und sie freute sich darauf, gleich ihren Appetit und den Kaffeedurst zu stillen.

Zwei Stunden später lümmelte Ramona übernächtigt gegenüber dem Kontrollraum in einem Aufenthaltsbereich, der auch als Kantine diente. Auf den Stuhl neben sich hatte sie ihren Rucksack gelegt. An der Wand sah sie Erinnerungsfotos mit früheren Gastwissenschaftlern am Radioteleskop. Sie erinnerte sich, wie ihr der akademische Austauschdienst die befristete Stelle vermittelt hatte. Um nichts in der Welt hätte sie diesen Traumjob und das Leben im überschaubaren Ort Parkes getauscht, aber in vier Tagen endete ihre Zeit hier. Der Abschied von alldem würde ihr schwerfallen.

Ramona blies in die Kaffeetasse, auf dem Pappteller vor ihr lag ein großer Muffin. Spätestens in einer Stunde würde sie in einen intensiven, aber kurzen Schlaf sinken. Auf dem Mobiltelefon las sie Nachrichten und überflog die Neuigkeiten in den Astronomiegruppen, als sie plötzlich hochschreckte. Ein Anruf ging ein und Ramona sprach unvorbereitet mit dem Direktor des Radioteleskops. Sie setzte sich aufrecht.

„Ramona, wie geht es Ihnen?“, fragte der Direktor und ohne die Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: „Der Zentralrechner ist heute Morgen nach Beginn der Frühschicht komplett ausgestiegen, ein beschissener Totalcrash, während die Indizierungsroutinen liefen …“

Sie erschrak. Hatte sie einen schwerwiegenden Fehler im Verlauf ihrer Schicht gemacht?

„Datenverluste?“, schnitt sie ihm das Wort ab.

„Das ist das kleinere Problem“, erwiderte er ungeduldig. „Wenig später hat das Australian Cyber Security Centre Wind von der Sache bekommen. Die haben in allen Rechenzentren Monitoringroutinen laufen. Da müssen heute Morgen die Leitungen geglüht haben. Denen geht der Arsch auf Grundeis.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Was haben die rausgefunden?“ Das ACSC unterstand dem Verteidigungsministerium. Sie hatte gelesen, dass Cyberangriffe auf australische Institutionen in den Fokus der nationalen Sicherheit rückten.

Der Direktor verkündete ihr hastig: „Da ist wohl ein Virus aufgetaucht, aber die Sache ist kompliziert. Und wir hängen in dem Schlamassel irgendwie drin. Halten Sie sich bereit für Nachfragen.“

Ramona widmete sich zuerst dem Muffin und dann den Nachrichten. Ihre Gedanken kehrten zum Anruf des Direktors zurück. Einen Virus durch Nachlässigkeit in das System einzuschleusen war unmöglich.

Und um welche Art Virus sollte es sich handeln? Computerviren nisteten sich im Speicher ein und entwickelten dann ein Eigenleben durch Reproduktion und Weiterverbreitung. Diese Analogie zu biologischen Viren fand sie bemerkenswert, sogar unheimlich. Einige konnten sich tarnen, andere sich selbst verändern oder verschlüsseln. Und eigentlich ging es immer darum, Schaden am Computer zu bewirken. Es gab aber auch Viren, die bei Datendiebstahl zum Einsatz kamen. So wie sie es verstand, hatte so etwas nicht stattgefunden. Was also konnte ein Virus am Datenserver eines Radioteleskops anrichten? Und wo kam er her?

In der Nacht wurde Ramona Konrad von einer rätselhaften, langen Funksequenz überrascht. Das aufregende Neue daran war die Dauer von mehr als einer halben Stunde. Eine zusammenhängende Folge von unbekannten Funksignalen dieser Länge wurde noch nie zuvor empfangen. Was konnte diese Impulsfolge bedeuten? Wer sendete sie aus?

Bild von Peter Schmidt auf Pixabay.

Am Vormittag erhielt sie eine E-Mail auf dem Mobiltelefon. Der Direktor hatte eine Nachricht kommentarlos an sie weitergeleitet. Absender war das Astronomy Data Center in Osawa, westlich von Tokio. Hier wurden große Datenmengen von Radioteleskopen weiterverarbeitet. In etwas unbeholfenem, aber höflichem Englisch teilte ein Mitarbeiter den zeitweisen Ausfall der Rechnersysteme in Osawa mit. Unmittelbar nach dem Eingang von Datenströmen des Parkes-Teleskops versagten mehrere Server kurz, fuhren selbständig wieder hoch und verhielten sich von nun an seltsam. So seien eigentlich unnötige Dienstprogramme gestartet und größere Datenübertragungen innerhalb japanischer Rechnerverbünde ausgelöst worden. Mit einer schamhaften Formulierung fragte er an, ob auch in der Parkes-Einrichtung „Unregelmäßigkeiten“ in den Computersystemen aufgetreten waren.

Ramona entdeckte ihren Kollegen Ed in der Tür zum gut gefüllten Aufenthaltsraum. Er trug ein Kännchen vor sich, aus dem der Faden eines Teebeutels hing. Er kam direkt aus einer Telefonkonferenz mit dem Direktorium und dem ACSC. Sie hob den Rucksack und schob den nun freien Stuhl mit dem Fuß für ihn zurecht. Dankbar nahm er diese Einladung an und setzte sich.

Er neigte ihr den Kopf zu und fragte verschwörerisch: „Schon gehört …?“

Sie unterbrach ihn: „Ja, der Direktor hat mich informiert. Musst du dich auch bereithalten?“

„Logisch.“ Er grinste breit. „Bald holen sie uns in einer dunklen Limousine ab.“

„Im Ernst, weißt du, was passiert ist?“, schnitt sie ihm das Wort ab.

„Wir haben einen getarnten Virus, oder was auch immer, im System. Man hat es am ungewöhnlichen Verhalten des Zentralrechners bemerkt.“

„Unser Netz ist abgeschottet und zig-fach gesichert, da kann kein Virus einfach so eindringen.“

„Das Ding hat selbständig Programmroutinen gestartet, es gab ungeplante Datenabrufe aus verschiedenen Rechenzentren. Hier wurden gezielt einzelne Datenbanken aufgerufen“, entgegnete er kundig, während er seinen Teebeutel umständlich aus der kleinen Kanne hob.

Sie schob ihm ihren leeren Pappteller als Ablage für den tropfenden Beutel hinüber.

„Welche Art Daten waren das?“, wollte sie wissen. Ihre Neugier wurde größer als die Müdigkeit.

„Zunächst gab es Zugriff auf astronomische Datenbanken. Danach wurden Informationen von Informatik- und Mathematikservern an Forschungseinrichtungen abgerufen. Nach kurzer Beruhigung dann Abfragen bei neuen Zeitschriften, Konferenzbeiträgen und Büchern zu Physik, Chemie, Biologie und Kybernetik.“ Ed konzentrierte sich und fuhr fort: „Die Rechner waren voll ausgelastet. Die eigentlichen Programme wurden noch irgendwie abgearbeitet, aber im Hintergrund ging es in den Prozessoren rund.“

Ramona verstand sofort, dass diese Vorgänge die weitere Tätigkeit am Radioteleskop und die Datenauswertung unmöglich machten. Ging so wertvolle Arbeit der letzten Monate verloren? War ihr Aufenthalt wissenschaftlich vergebens?

Der Direktor verschickte am späten Vormittag eine Nachricht an alle Teammitglieder, dass die Anlage vorerst außer Betrieb sei. Spezialisten des ACSC versuchten per Fernwartung dem vermeintlichen Virus auf die Spur zu kommen. Bis auf weiteres müsse sich niemand außer einem Computertechniker im Gebäude aufhalten. Ramona las die Nachricht nur wenig erleichtert. Sie konnte zwar schlafen gehen, aber in ihr brütete ein Gedanke und ließ sie nicht los. Ramona und Ed erhoben sich und während sie Krümel vom Tisch auf den Pappteller schob, wollte sie leise von ihm wissen: „Wenn von außen kein Virus in unser System kommt, kann er auch von allein entstehen – irgendwie?“

Er senkte ebenfalls die Stimme: „Den Zahn muss ich dir ziehen. Ein Programm müsste dann zufällig exakt die Abfolge von Bits, von Nullen und Einsen, im Speicher ablegen, die einem programmierten Virus entspricht.“

Was könnte ein Computerprogramm dazu bringen? Konnte ein Einfluss von außen dem Zufall nachhelfen? Diesen Geistesblitz musste sie vertiefen. Das Umwandeln analoger in digitale Daten brachte laufend neue Bitmuster im Arbeitsspeicher des Rechners hervor. Hier war der Knackpunkt – das war ein Grundprinzip der Radioastronomie! Sollte sich etwa auf diese Weise zufällig ein Virus gebildet haben? Oder gar absichtlich? Bei diesem Gedanken war sie hellwach.

In ihrem Apartment in Parkes glitt Ramona wie ein Kind in Intensivschlaf, wachte aber schon nach wenigen Stunden wieder auf. Sie tippelte im Schlafshirt und mit strubbligen Haaren barfuß zur Küchenzeile, wobei sie den Umzugskartons ausweichen musste. Nach dem Einschalten der Kaffeemaschine überflog sie Benachrichtigungen auf ihrem Mobiltelefon. Berichte über gestiegene Auslastung der verbundenen Rechner der Forschergemeinschaft machten die Runde. Genau wie bei uns, dachte sie verblüfft.

Am Nachmittag erhielten alle Mitarbeiter des Parkes-Radioteleskops die Nachricht, dass der Betrieb für weitere 48 Stunden ausgesetzt sei. Die Anwesenheit auf dem Gelände sei nicht erforderlich.

Ramona rief Ed an. „Ich habe eine E-Mail von einer Kollegin aus Bonn bekommen. Im Forschungszentrum Jülich und an der Universität Groningen arbeiten die Rechner mit drastisch erhöhter Prozessorauslastung. Kennen wir das nicht?“

Er murmelte Zustimmung und fragte sie unvermittelt: „Gehen wir heute Abend ins Astro Dish?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Du hast mir versprochen, dass ich dich noch mal zum Essen einladen darf. Viele Gelegenheiten haben wir nicht mehr.“

„Na klar, abgemacht. Holst du mich ab?“, erwiderte sie mit einem Lächeln.

Ramona und Ed betraten den Gastraum des Astro Dish Restaurants, es duftete mild nach geröstetem Gemüse und Thymian. Als sie den Tisch ansteuerten, kam ihr der Gedanke, dass es schon ein Abschiedsessen war.

„Was Neues gehört?“, erkundigte sie sich, während sie das Essen genossen.

Ed schaute sie ernst an. „Ich habe vorhin die Meldung gelesen, dass es heute Störungen bei Amazon Web Services gab. Das sind große Serverfarmen, die vermietet werden. Das Rechenzentrum in Irland musste massive Leistungseinbußen der Clouddienste verkraften.“

„Ob da ein Zusammenhang zu den Forschungseinrichtungen besteht?“ Sie hob die Augenbrauen.

„Keine Ahnung. Übrigens, sie haben bei den Untersuchungen an unseren Rechnern keinen Cyberangriff festgestellt, sehr erstaunlich.“

Das überraschte Ramona wenig.

Sie fasste sich ein Herz und formulierte ihren skurrilen Gedanken: „Hältst du es für möglich, dass in den Radiowellen, die wir empfangen, der Bauplan für einen raffiniert programmierten Virus enthalten ist? Und dass dieser Virus erst hier, im Speicher unseres Rechners, zu einem Programmcode zusammengefügt wurde?“

Sein skeptischer Blick versetzte ihr einen Stich, was sie nicht verbergen konnte.

„Na ja, ganz ehrlich, das würde voraussetzen, dass die Funksignale von einer intelligenten Spezies stammen. Sie müsste so hochentwickelt sein, dass sie unsere Rechnerarchitektur erahnen kann, damit so ein Virus nach Bauplan auch funktioniert.“

Ramona spürte, dass Ed um einen versöhnlichen Tonfall bemüht war.

Grübelnd setzte er hinzu: „Oder das Viruskonzept ist so universell, dass es für beliebige Bauarten von Computern gilt.“

Ramona war innerlich zerrissen. Sie war bei allem, was die Entdeckung außerirdischer Lebensformen betraf, misstrauisch. Wäre tatsächlich ein solcher Virus entstanden, dann hätten sie den Beweis für eine außerirdische Intelligenz direkt vor sich. Sollten die Alien-Fanatiker etwa recht behalten?

Am Morgen danach legte Ramona zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. Sie schaltete neugierig ihren Laptop ein. Noch ohne ihren geliebten Kaffee las sie E-Mails und Nachrichten im Netz. Finanzmeldungen beherrschten die Schlagzeilen: Die Kurse der Digitalwährungen Bitcoin und Ethereum waren auf den Handelsplattformen eingebrochen. Anleger erlitten Verluste, Milliarden Dollar hatten sich in Luft aufgelöst.

Geschieht den Zockern recht, urteilte sie trocken. Die Brotscheiben sprangen mit einem Knacken aus dem Toaster. Ramona ordnete sie auf einem Teller an und legte zwei Käsescheiben darüber. An ihrem Platz lehnte sie sich zurück, um keine Krümel auf die Tastatur des Laptops fallen zu lassen, und las weiter.

Serverfarmen und private Computer reduzierten die Ausgabe neuer digitaler Münzen der Kryptowährungen. Dabei hätten die Rechner eine gleichbleibend hohe Rechenleistung zur Verfügung gehabt. Anleger stießen in einer Spirale aus Sorge, Angst und Panik ihre Bestände ab.

Ramona drehte sich vom Bildschirm weg und setzte die Priorität für einen frischen Kaffee nach ganz oben. Während der braune Strahl aus der Maschine heller wurde, wippte sie von einem Bein auf das andere, ihre Gedanken sirrten.

Seit dem Mittag packte Ramona ihren Hausrat und füllte lustlos weitere Umzugskartons. Sie musste einen Container auf der Straße mit den Kisten beladen, eine Spedition würde alles abholen. Der Fernseher war eingeschaltet und sie verfolgte nebenbei die Laufschrift mit Nachrichten bei ABC. Immer mehr Computernetzwerke in Firmen, Behörden, Banken und Universitäten weltweit waren von Einschränkungen ihrer Effizienz betroffen, es war, als ob große Rechenkapazitäten abgezweigt und zweckentfremdet wurden. Ihr Bauchgefühl sagte, dass zwischen diesen Ereignissen ein Zusammenhang bestand.

Sie grübelte: Wozu diente die abgeknapste Computerleistung? Von allen Computerprogrammen, die große Kapazität benötigten, fielen ihr zuerst neuronale Netzwerke ein. War hier eine künstliche Intelligenz entstanden, die sich über die weltweiten Computernetze ausgedehnt hatte, nicht wahrnehmbar für uns? Wurden sie durch die 38-minütige Funksequenz mit einem Virus infiltriert, dessen Aufgabe die Entfaltung und das Wachstum dieser Intelligenz war? In ihrem Magen grummelte es.

Ramona setzte sich auf den Fenstersims, wie sie es gern tat, um nachzudenken. Ihr Blick fiel auf ein kleines Insekt neben sich, das die Orientierung verloren hatte. Es lief Richtung Licht, drehte, krabbelte zur Kante, machte eine halbe Drehung und bewegte sich auf sie zu. Der Käfer erforschte seine Umgebung, nicht immer planvoll, aber unermüdlich.

Sie sprang auf, ihre Miene erhellte sich. Vielleicht war es das, was gerade in der Welt passierte: Unsere Spezies wurde erforscht! Konnte ein synthetischer Intellekt selbständig die verschiedenen Sprachen der Menschen lernen? Gab es deshalb so viel Datenverkehr im Netz, weil dieser Verstand durch ständiges Vergleichen von Inhalten deren Bedeutung erfassen konnte? Anhand des digitalen Wissens in Datenbanken und Internet ließ sich auf den Entwicklungsstand der Menschheit schließen. Ihre Kopfhaut spannte sich wie eine gedehnte Luftballonhülle.

Am Tag vor ihrer Abreise stand Ed an Ramonas Tür. 

„Hey, Abschied ist erst morgen!“ Sie versuchte ein Lächeln, aber sie spürte ihre Augen feucht werden. Er folgte ihr ins Innere, sie schob Umzugskartons weg und machte ihm Platz zum Sitzen.

Atemlos fing er an zu berichten: „Das ist der Hammer! Unsere Freunde beim Canberra Deep Space Communication Complex habe sich gerade gemeldet.“

Sie füllte ihm ein Glas mit Wasser und stellte es vor ihn. Dankbar trank er einen großen Schluck.

Er fuhr erregt fort: „Deren 70-Meter-Antenne wurde vor ein paar Stunden neu ausgerichtet, entgegen dem Schichtplan. Die gesamte Programmierung der Servomotoren wurde autonom geändert. Ist niemandem aufgefallen. Dann wurde ohne Zutun des Operators der Sender aktiviert und eine ziemlich lange Übertragung gestartet.“

„Was wurde da gesendet?“ Ramona starrte Ed an wie ein unbekanntes Wesen.

Er zuckte mit den Achseln. „Das wissen die nicht. Es gibt keine Aufzeichnung.“

Nervöse Schauer wanderten von ihrem Nacken den Rücken abwärts.

„Und das ist noch nicht alles! Die Computer auf allen Kontinenten sind während der Sendung von Canberra zum Normalbetrieb zurückgekehrt. Geht gerade wie ein Lauffeuer durch die Nachrichten.“ Fast verhaspelte er sich bei seinen Worten. Sie hielt kurz die Luft an und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.

Ramona setzte sich plötzlich aufrecht vor ihn, hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. Sie schwieg einen Moment, um seine ganze Aufmerksamkeit zu bekommen. Dann streckte sie die Arme aus, mit den Händen ergriff sie seine Schultern und drückte fest zu. Sie saßen sich gegenüber wie bei einer Yogaübung.

„Lieber Ed, ich ahne, was da gesendet wurde“, erklärte sie fast feierlich. „Es ist ein Bericht über uns, die Menschheit. Unser Entwicklungsstadium, unsere Geschichte, unsere Konflikte, unsere Kultur – alles wurde gesammelt, analysiert und in einen Report komprimiert. Wenn du so willst – heute war Zeugnistag für die Menschheit. Hoffen wir, dass wir nicht zu schlecht dabei wegkommen.“

Ramona stellte am Abreisetag zwei Koffer vor die Eingangstür, damit der Taxifahrer gleich erkennen konnte, wo er halten musste. Der Abschied von Freunden am Vortag war tränenreich gewesen. Sie empfand Wärme, fast Liebe für das Team. Ed hatte ihr zur Erinnerung eine CD geschenkt. Sie enthielt eine ins hörbare Spektrum gewandelte Version der 38 Minuten langen Funksequenz und klang wie rückwärts abgespieltes Geräuscheraten in einem Radio, das durch ein Mobiltelefon gestört wird. Sie setzte sich auf einen Koffer und wartete. Sie freute sich, ihre Eltern und Freunde wiederzusehen, und spürte ein Kribbeln im Bauch.

Sie überschlug im Kopf immer wieder eine einfache Rechnung. Sie war jetzt 34 Jahre alt. Die Signale, die von Canberra aus vor zwei Tagen ins All gesendet wurden, brauchten ungefähr zwanzig Jahre, um ihr Ziel irgendwo da draußen zu erreichen. Ramona nahm an, dass sich die Empfänger der Nachricht mehrere Monate zur Analyse und dem Formulieren einer Botschaft an die Menschheit Zeit lassen würden. Sendeten sie dann diese Antwort als Funksignal zur Erde, wäre dieses Signal wiederum zwanzig Jahre unterwegs. Sie wäre dann 75 Jahre alt!

Der Taxifahrer kam pünktlich, sie luden gemeinsam ihre Koffer ein. Während der fast zweistündigen Fahrt zum Flughafen holte sie ihr Mobiltelefon hervor. Sie recherchierte im Netz weiter über den Zusammenhang von gesunder Ernährung und hoher Lebenserwartung.